Arzneimittel-Entwicklung

Arzneimittel-Entwicklung

In 10 Schritten zum Medikament

Hast Du Dich schon einmal gefragt, wie Dein Faktorpräparat oder ein anderes Medikament entstanden ist? Die Entwicklung eines neuen Medikaments ist eine echte Mammutaufgabe, denn sie erfordert viele Hundert Einzelschritte, hochspezialisierte Technik und Experten aus verschiedenen Fachbereichen.

Dieser Prozess ist langwierig, teuer und risikoreich. Er dauert über 12 Jahre und kostet durchschnittlich € 1 Milliarde. Und nur 2 Prozent der Substanzen, die in den Entwicklungsprozess starten, schaffen es als neues Arzneimittel auf den Markt. Die Entscheidung, nach einem neuen Medikament zu forschen, will also gut überlegt sein.

Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen

Schritt 1: Entdeckung

Ist eine Krankheit noch nicht behandelbar? Oder gibt es bei den bestehenden Therapieoptionen Aspekte, die weiter verbessert werden können? Können Wirksamkeit und Verträglichkeit des Medikaments oder die Lebensqualität der Betroffenen gesteigert werden? Solche Fragen zeigen einen medizinischen Bedarf auf (Unmet Need).

Dank des medizinischen Fortschritts ist Hämophilie heute gut behandelbar. Doch Patienten und Mediziner wünschen sich, dass die Therapie noch einfacher und noch sicherer wird. Hilfreich wäre außerdem, wenn sie das tägliche Leben der Betroffenen noch weniger beeinflussen würde. Daher werden auch weiterhin neue Medikamente zur Behandlung der Hämophilie entwickelt.

Schritt 2: Zielauswahl

Der menschliche Körper ist ein sehr komplexes System. Die Forscher müssen zunächst die biochemischen Vorgänge, die im Zusammenhang mit der Erkrankung stehen, gut verstehen. Anschließend klären sie ab, an welcher Stelle im Krankheitsgeschehen die Therapie ansetzen könnte, und legen ein sog. Target (Ziel) fest.

Zielstrukturen sind bspw. Moleküle, die vom Körper nicht in normalen Mengen oder mit normaler Funktion hergestellt werden, wie etwa

  • Gerinnungsfaktor VIII bei Hämophilie A,
  • Gerinnungsfaktor IX bei Hämophilie B,
  • Von-Willebrand-Faktor (VWF) beim Von-Willebrand-Syndrom.

Fehlende Gerinnungsfaktoren und der Von-Willebrand-Faktor können heute gezielt ersetzt werden.

Petrischale

Tüfteln und prüfen

Schritt 3: Lead-Generierung: Wirkstoffe entwickeln

Anschließend suchen die Forscher nach Substanzen, die mit der gewählten Zielstruktur interagieren. Dafür testen sie verschiedene Moleküle in einem sog. Screening-Prozess. Moleküle, die sich eignen, werden als Leads bezeichnet.

Ideale Moleküle erfüllen folgende Kriterien: Sie

  • richten sich ausschließlich gegen die gewünschte Zielstruktur, bei Hämophilie bspw. die betroffene Gerinnungskaskade,
  • haben keine oder höchstens wenige Nebenwirkungen,
  • können vom Körper in der notwendigen Menge aufgenommen werden,
  • haben eine lange Haltbarkeit,
  • bleiben lange genug im Körper, um die gewünschte Wirkung zu erzielen, und
  • können in ausreichender Menge hergestellt werden, z. B. durch gentechnologische Verfahren bei Präparaten zur Behandlung der Hämophilie.

Leads können verschiedene Wirkansätze haben:

  • Bei Hämophilie oder dem Von-Willebrand-Syndrom wissen Forscher genau, welcher Stoff im Körper fehlt, und können ihn gezielt zuführen.
  • Die Non-Faktor-Therapie simuliert die Wirkung der fehlenden Gerinnungsfaktoren.
  • Eine Gentherapie soll zukünftig direkt an der Ursache – nämlich der genetischen Störung – ansetzen.

Mit den gefundenen (generierten) Leads kann der Prozess zum nächsten Schritt übergehen.

Schritt 4: Lead-Optimierung

Wenn ein gefundener Lead nur einen schwachen Einfluss auf die Zielstruktur hat, ist es Aufgabe der Chemiker, das Leitmolekül so zu verändern, dass sich die Wirkung auf das Ziel erhöht. Physiologische Gerinnungsfaktoren haben bspw. eine kurze Halbwertszeit und müssen daher regelmäßig ersetzt werden. Durch Lead-Optimierung wurden Gerinnungsfaktoren so verändert, dass sie langsamer abgebaut und ausgeschieden werden. Faktorpräparate mit längerer Halbwertszeit müssen daher seltener gespritzt werden. Zur Lead-Optimierung gehört auch, Substanzen zu finden, gegen die der Körper keine Hemmkörper entwickelt.

Im Stadium der Lead-Optimierung werden Substanzen patentiert.

Schritt 5: nicht-klinischer Sicherheitstest (präklinische Studien) 

Wurde ein aussichtsreiches Molekül gefunden, wird zunächst die sichere Anwendung in Zellkulturen und im Tierversuch geprüft. Dabei betrachten die Forscher die systemische und die lokale Verträglichkeit, den Einfluss auf die Fortpflanzung und ob ein Risiko besteht, andere Erkrankungen wie bspw. Thrombosen oder Krebs auszulösen.

Gleichzeitig liefern diese Studien Informationen über die sog. Pharmakokinetik, also wie sich der potentielle Arzneistoff im Körper verhält:

  • Aufnahme in den Körper (Absorption),
  • Verteilung im ganzen Körper (Distribution),
  • Abbau im Körper (Metabolismus) sowie
  • Ausscheidung durch den Körper (Exkretion).

Auf Basis dieser Erkenntnisse wird entschieden, ob und mit welchen Dosierungen die Prüfung beim Menschen beginnt.

Frau im Labor

Erste Bewährungsprobe

Schritt 6: klinische Studien der Phase I – Sicherheit (H3)

Phase-I-Studien sollen die Erkenntnisse der Tierversuche zur Sicherheit und Pharmakokinetik für die Anwendung am Menschen bestätigen (Proof of Concept). Sie beginnen häufig mit einer sehr niedrigen Dosis, die dann schrittweise erhöht wird. Teilnehmer der Phase-I-Studien sind in der Regel Probanden, also gesunde Freiwillige, und nur in Ausnahmefällen Patienten. Letzteres kann bei schweren Erkrankungen wie bspw. Krebs oder bei seltenen Erkrankungen wie schwerer Hämophilie der Fall sein, um dem Patienten alle Chancen auf einen Therapieerfolg zu ermöglichen.

Für diese Phase werden die Wirkstoff-Kandidaten noch in geeigneter Weise „verpackt“. Sogenannte Galeniker, Experten für die Arzneimittel-Zubereitung, entscheiden, ob die Substanzen z. B. als Infusion, Tablette, Salbe, Spray oder in anderer Form für den Gebrauch aufbereitet werden. Sie legen dabei auch fest, wie lange und wie konzentriert die jeweilige Substanz an welchem Ort im Körper ihre Wirkung entfalten wird.

Schritt 7: klinische Studien der Phase II – Wirksamkeit und Sicherheit im Kleinen

Wenn die Phase-I-Studien gezeigt haben, dass die Anwendung des zukünftigen Arzneimittels unbedenklich ist, wird es zunächst an einer kleinen Zahl von Patienten getestet. Meist sind es 100 bis 500 Patienten, bei seltenen Erkrankungen wie Hämophilie können es auch weniger als 100 Patienten sein.

Allgemein werden in Phase-II-Studien zwei Behandlungsgruppen verglichen:

  • Die eine Gruppe erhält die aktive Medizin,
  • die andere Gruppe erhält ein unwirksames Schein-Medikament (Placebo).

Bei schweren und seltenen Erkrankungen ist es aus ethischen Gründen nicht vertretbar, Patienten eine unwirksame Therapie zu verabreichen. In solchen Fällen werden stattdessen verschiedene Dosierungen des aktiven Wirkstoffs verglichen.

Bis zum Ende der Phase-II-Studien sind in etwa achteinhalb Jahre Forschungs- und Entwicklungszeit vergangen und etwa 1 Milliarde Euro in das Programm geflossen.

Schritt 8: klinische Studien der Phase III – Wirksamkeit und Sicherheit im Großen

Phase-III-Studien sollen bei einer größeren Patientenzahl bestätigen, dass das Medikament wirksam und sicher ist. Dabei können mehrere Tausend Patienten in die Studien eingeschlossen werden, bei seltenen Erkrankungen wie Hämophilie mit weniger als 500 Patienten meist deutlich weniger.

Informationen aus den früheren Phasen sind die Grundlage für den Aufbau der Phase-III-Studien. Dabei wird z. B. über die endgültige Galenik des Medikaments und die zu testende Dosierung entschieden.

Phase-III-Studien werden oft in mehreren Ländern parallel durchgeführt. Sie zeichnen so ein klares Bild zur Wirksamkeit und Sicherheit des Medikaments. Studien mit Kindern und Jugendlichen, sog. pädiatrische Studien, müssen zusätzliche Anforderungen erfüllen.

Die Hälfte der Medikamente, die Phase III erreicht haben, scheitern an diesen Tests.

Auf der Zielgeraden

Schritt 9: Marktzulassung beantragen

Wenn die klinischen Phase-III-Studien ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis zeigen, kann der Hersteller die Marktzulassung bei der zuständigen Zulassungsbehörde beantragen. Für eine Zulassung in allen Ländern der Europäischen Union ist dies die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency, EMA). Zuständig für nationale Zulassungen in Deutschland ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Geht es um Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel, zu denen auch Hämophilie-Produkte gehören, prüft das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) alle Studienergebnisse.

Sind die Zulassungsbehörden mit den Studienergebnissen einverstanden, wird die Zulassung erteilt, und das Medikament darf auf den Markt gebracht werden.

Der Überprüfungsprozess dauert in der Regel 12 bis 18 Monate.

Schritt 10: Phase IV – Sicherheitsüberwachung bei breiter Anwendung 

Nach der Markteinführung muss die Sicherheit eines Medikaments im wirklichen Leben überwacht werden. Seltenere Nebenwirkungen, Wechselwirkungen oder Begleiterkrankungen, bei denen die Anwendung ein Risiko sein könnte, fallen möglicherweise erst auf, wenn sehr viele unterschiedliche Patienten behandelt werden. Die Sicherheitsüberwachung von Arzneimitteln wird als Pharmakovigilanz bezeichnet. Die nationalen Zulassungsbehörden – für Hämophilie-Präparate also das Paul-Ehrlich-Institut – sammeln, bündeln und analysieren alle Informationen, um Hinweise auf Abweichungen frühzeitig zu erkennen. Durch diese engmaschige Überwachung ist die Arzneimittel-Therapie auf dem höchstmöglichen Sicherheitsstand.

Tipp: Wenn Du Fragen hast, wie und wo Du Dein Faktorpräparat auch zukünftig zuverlässig erhältst, informiere Dich auf unserer Seite zum GSAV.